Schwarmintelligenz für Dummies

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Die Piratenpartei verwechselt Basisdemokratie mit Schwarmintelligenz. Daran sind Journalisten schuld. Brainstorming ist nicht Schwarmintelligenz. Basisdemokratie ist nicht Brainstorming. Davon handelt dieser Beitrag: wie die Piratenpartei Österreichs Zeitungsenten auf den Leim ging.

Viele Hände, leichte Arbeit

Beim Bundesheer schälten wir zu zehnt Kartoffeln. Das erforderte kein Denken, war aber trotzdem fad. Noch fader und langwieriger wäre freilich gewesen, die Kartoffeln alleine zu schälen. Bis zur Vollendung des riesigen Bergs an geschälten Kartoffeln wären Rekruten verhungert. Es sollte jeden überzeugen, dass MANCHE Arbeiten zehnmal schneller erledigt sind, wenn sich zehn Leute die Arbeit teilen. Das gilt nicht für jedes Werk - z.B. nicht für die Herstellung eines menschlichen Babies - aber auch für Suchen und Finden. Wenn sich eine Horde ein Gebiet zur Durchforstung teilt, dann muss jeder einzelne nur einen (kleinen) Teil durchsuchen. Aus diesem Grund druckt die Polizei vermisste Kinder auf Cornflakes-Packungen.

Auch Ideen wollen gefunden werden. Damit sind wir beim Thema Brainstorming, einer ähnlichen Vermassungstechnik.

Was ist Brainstorming? Brainstorming ist nicht Schwarmintelligenz.

Die Werbeindustrie produziert oft sagenhaft einfallsreiche Slogans ("Wahltag ist Zahltag"), aber dahinter steckt nur selten ein Dämon von unermesslichem Witz und Verstand. Für jedes gegebene Werbevorhaben ist irgendwo im Reich der Phantasie ein passender Sinnspruch versteckt, den jemand finden wird, wenn man nur genug Leute in ein Zimmer sperrt und ihnen genug Alkohol zu trinken gibt. Wer gute Ideen braucht, sollte viele Ideen haben. Wer viele Ideen braucht, sollte für eine stattliche Bemannung seiner Denkräumlichkeiten sorgen, um sicher zu gehen, dass das Reich der Phantasie großflächig abgesucht wird. Brainstorming funktioniert am besten, wenn die Teilnehmer unmittelbare physische Nähe zueinander haben, denn so können die einzelnen Geistesblitze einander auf Zuruf entzünden. Brainstorming funktioniert weniger gut, wenn die Teilnehmer einander ähnlich sind, z.B. alle die selbe Fachhochschule besucht haben und gleich alt sind. Im unangehmsten Extremfall sucht jeder im Reich der Phantasie die selben Flecken ab und die armen Werbekunden müssen sich begnügen mit "Tauen Sie unsere Tiefkühlnahrung auf und behalten Sie Ihre Gattin als Hobby". Nicht nur Werbemeister schwören auf Brainstorming, auch Architekten, Astronauten und Anwälte. Die Komödiantentruppe Monty Python wurde reich und berühmt mit Brainstorming.

Eine weitere Anwendung für Brainstorming: gesucht wird nicht die beste Idee, sondern alle, z.B. was alles schiefgehen kann bei der Gründung eines Vereins oder wer zur Hochzeit vom Schani-Onkel eingeladen werden soll. Und was alles schiefgehen kann, wenn man seine Ex auch einlädt.

Bei der Piratenpartei ist Brainstorming beliebt, leider aus den falschen Gründen.

Eine Werbefirma ist keine Demokratie, und Brainstorming beruht nicht auf der Gleichheit aller Menschen oder der Gleichheit aller Ideen. Brainstorming ist kein Mittel, um allen eine Stimme zu geben, die gehört werden wollen. Im Gegenteil: je nach eigenem Erfolg kann man Brainstorming als Ideenwettbewerb betrachten ("Wieder einmal habe ich als einziger Wilhelm Busch gelesen") oder als Lotterie ("der Vollpfosten hat zufällig ein serbokroatisches Wortspiel übersetzen können"). Dass Brainstorming auch den Gummibootmatrosen Gelegenheit geben soll, auch einmal recht zu haben ist eine Zwangsvorstellung der Piratenpartei Österreichs. Zu dem Irrtum verleitet die nützliche Brainstorming-Praktik, zunächst einmal alle Ideen - egal, wie unpassend oder spontan - zu protokollieren und erst in einer zweiten Phase zu bewerten. Die Bewertung geschieht selten basisdemokratisch durch die Teilnehmer, sondern durch den Chef, den Kunden, einen Experten oder ein Lineal. Brainstorming für die beste Idee - einen Slogan vielleicht, oder einen Vorwand für eine Presseaussendung - darf man keinesfalls verwechseln mit der Suche nach allen Ideen. Nicht einmal bei der Sammlung aller Ideen schaffen es alle aus den Hirnen gestürmten Einfälle ins Endprodukt, denn darunter befinden sich immer auch schlechte Einfälle, die man bei aller Liebe zur Demokratie außen vor lassen sollte.

Was ist Schwarmintelligenz? Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

In der Presse und in der PPÖ vermischen sich die Wörter "Basisdemokratie", "Teilen von Arbeit" und "Brainstorming" zu einem begrifflichen Schmarren, der für Top-Resultate sorgen soll, ohne dass auch nur ein Teilnehmer alleine diese Resultate liefern könnte: "Schwarmintelligenz". Das einzig Gemeinsame in der jeweiligen Bedeutung ist, dass es bei den jeweiligen Tätigkeiten mehr als einen Teilnehmer gibt. Dass ein Trupp aus zehn Kartoffelschälern deutlich früher fertig ist als ein einzelner, verleitet hellboy und andere offenbar zur frohen Hoffnung, dass ein Team aus tausend Schimpansen mit einem Piratepad so etwas wie Stolz und Vorurteil verfassen könne, oder wenigstens eine anständige Presseaussendung. Das ist aus mehreren Gründen ein Irrtum, aber er ist so gewaltig, dass er den Rahmen dieses Beitrags sprengt.

Schwarmintelligenz beruht auf der zunächst sehr technischen Feststellung, dass extrem primitive Komponenten verblüffend kompliziertes oder sogar sinnvolles Verhalten zeigen können, wenn eine großer Zahl von solchen Elementen jeweils einige wenige andere Elemente beeinflusst. Ein klassisches Beispiel ist John Horton Conways "Simulation des Lebens", das auf einem beliebig großen Raster gefahren wird. Es gibt nur fünf Regeln:

  1. ein Feld - jedes Feld - ist entweder lebendig (Punkt) oder tot (kein Punkt)
  2. ein Feld ohne oder mit nur einem lebenden Nachbarn stirbt im nächsten Durchgang an Einsamkeit
  3. ein Feld mit zwei lebendigen Nachbarn bleibt wie es ist, tot oder lebendig
  4. ein Feld mit drei Nachbarn WIRD lebendig, wenn es tot isst oder bleibt lebendig
  5. ein Feld mit mehr als drei lebendigen Nachbarn stirbt vor Freude über soviel Gesellschaft

Alle Zellen im Raster sind in exakt dieser Weise programmiert. Jede Zelle beachtet nur ihre acht Nachbarn.

Hier ist ein Youtube-Link für eine Betrachtung des Verhaltens solcher Raster</a>. Diese simplen Wechselspiele mit den Nachbarfeldern lassen sich babyleicht auf einem Computer simulieren. Programmierer jeden Alters können sich stundenlang an den tollsten Arabesken, Kräuseln und Wirbelstürmen ergötzen, die bestimmte Ausgangsmuster hervorbringen. Denn am Freitag- oder Samstagabend haben solche Leute ja nichts besseres zu tun. A propos "tun". Was hat das mit Schwarmintelligenz zu tun? Die Einsicht, dass hinter kompliziertem Verhalten, sogar hinter zielgerichtetem und kompliziertem Verhalten, oft sehr simple Regeln stecken, gab nicht nur der Informatik, der Werkstoffforschung und den Roboter-Theoretikern neue Impulse, sondern auch der Biologie. Zuvor konnten Biologen nicht erklären, wie sich die Vögel im Schwarm ausmachen, in welcher Reihenfolge sich die einzelnen Mitflieger an die Spitze setzen, wenn der Vordervogel ermüdet. Gibt es eine Art Pickordnung wie am Hühnerhof? Aber wie soll das möglich sein für zigtausende oder hunderttausende Individuen? Besonders verwirrend für Vogelforscher waren z.B. solche Stare.

Die Simulation des Lebens brachte die Vogelkundler auf die richtige Spur, und voilà : es gibt gar keine Pickordnung oder sonstige zentrale Steuerung durch fliegende Leithammel. Die Vögel verteilen sich einfach nach Zufall und haben einen simplen Instinkt. Sobald der vorausfliegende Vogel ermüdet, fällt er nach hinten und sein Verfolger nimmt aus seinem Windschatten heraus dessen Platz ein. Das Entscheidende bei der Schwarmintelligenz ist: das Ganze ist deutlich mehr als die Summe seiner simplen und völlig austauschbaren Teile. Ich könnte mit meiner russischen Armeezwille einzelne Vögel aus dem Schwarm herausschießen, und er würde nicht aufhören, wie ein "intelligenter" Schwarm zu funktionieren. Damit steht die Schwarmintelligenz im deutlichen Gegensatz zu anderen, schon seit langem gut verstandenen, Gebilden:

  • Beim Kartoffelschälen sind die einzelnen Wehrbuckel nicht intelligent und völlig austauschbar, aber das Gesamtverhalten ist genau so fad wie das der einzelnen Elemente. Die Teilnehmer interagieren nicht. Sie sind bloß schneller fertig.
  • Bei zusammengesetzten Gefügen wie Autos, Raffinerien, Nassrasierern oder Spezialisten-Teams ist das Ganze mehr als seine Teile, aber diese Teile sind nicht austauschbar, weil sie einander ergänzen. Die Vernichtung einzelner Elemente macht das Ganze kaputt.
  • Beim Brainstorming teilen sich die Teilnehmer das Reich der Phantasie, und sollten einander befruchten und ergänzen, aber ihre jeweiligen Beiträge sollten nicht primitiv sein. Brainstorming steht dem Kartoffelschälen auf der Galeere näher als einem zusammengesetzten Apparat oder einem Schwarm, aber die Resultate sind intelligenter, weil die Teilnehmer intelligentere Beiträge liefern.

Das ist alles, was dahinter ist bei der Schwarmintelligenz. Nach der bahnbrechenden Einsicht kamen auch die Myrmekologen (Ameisenkundler) und Ichthyologen (Fischkundler) auf die Schwarmintelligenz. Darüber freuten sich die Computerstreber, denn bis dahin gab es für ihre Entdeckung der erstaunlichen Majestät primitiver Komponenten keine populärwissenschaftliche Anwendung. Die Simulationsfreaks steckten die Frohbotschaft aus der Verhaltensforschung einigen Journalisten, die den Kern der Lehre (wie immer bei wissenschaftlichen Resultaten) gründlich missverstanden und für die Sonntagsbeilagen noch weiter zweckentfremdeten. "Schwarmintelligenz" war besonders willkommen in der Erörterung der Vorzüge der damals neuen Social Media Websites wie reddit.com oder digg.com, bei denen ein breiter Teilnehmerkreis von Trolls, PR-Rasseln, Klickbots, Sockenpuppen und Kiffer darüber entscheidet, welche verlinkten Beiträge die interessantesten für die Lesergemeinde sind und es auf die Titelseite schaffen. Kurz gesagt: die Gemeinde WÄHLT was ihr am besten gefällt. So entstand die Verwechslung von Basisdemokratie und Schwarmintelligenz, denn ausgerechnet Linksammelwebsites wie reddit oder digg haben mit Schwarmintelligenz nichts zu tun, sondern sind pure demokratische Abstimmung. (Und ausgerechnet dieses nützliche Technik mit den nach Voting gereihten Links verwendet die PPÖ nicht.)

Eine Wahl im weitesten Sinn ist nicht schwarmintelligent, sondern ein Markt. Ein Markt ist nicht schwarmintelligent, weil das Ganze nicht mehr ist als seine Teile, sondern weniger. Ein Markt sondert Elemente aus, die sich im Wettbewerb nicht bewähren. Außerdem wirken die Teilnehmer nicht aufeinander ein, sondern bloß auf die Urne und die Anbieter.

Im Belehrungsrausch gingen solche Verwechslungen in der Weltpresse munter weiter, denn Schwarmintelligenz wurde Mode. Plötzlich war auch der Aktienmarkt schwarmintelligent, denn ähnlich wie auf reddit konnte die breite Masse Information injizieren -- besonders auf den neu gebauten Weltnetz-"Vorhersagemärkten" für die Aussichten von Hollywood-Filmen, Präsidentschaftskandidaten und Terroranschlägen. Plötzlich war auch Twitter von hoher Schwarmintelligenz, denn der Schwarm entscheidet, wie oft die Botschaft "omg awesum lol u mad bro" retweetet wird. Überflüssig zu sagen, dass diese Märkte mit Vogelschwärmen oder der Koppelung primitiver Elemente absolut nichts zu tun haben.

Nach und nach sickerte die Fehlkunde von den Schwärmern hinunter bis in die Publikationen Kronenzeitung, Peter Moosleitners interessantes Magazin und BRAVO GiRL!. Dort entdeckten die Mitglieder der PPÖ den Begriff und seine kultischen Möglichkeiten in der Basisdemokratie. Nicht einmal die gütigen, weisen Bundesvorstände waren gefeit vor tragischen Offenbarungseiden, wie man in Die Presse lesen kann.

Die irrige Auffassung von Schwarmintelligenz nährt sich dank Zeitungsenten entlang spontaner Assoziationsketten:

  • Piratenpartei, also Internet und Basisdemokratie
  • Schwarmintelligenz, also viele Teilnehmer am Internet, die abstimmen
  • Abstimmen am Internet ist Basisdemokratie, also Piraten
  • Piratenpartei ist die Mitmachpartei, beim Brainstorming können alle mitmachen
  • ergo ist Brainstorming Basisdemokratie
  • und die Piratenpartei ist die Schwarmintelligenzpartei
  • So schön kann Denken sein!

Die schlechte Nachricht: für Schwarmintelligenz gibt es in der Piratenpartei keine praktische Anwendung, und der Begriff bedeutet inzwischen nur mehr so viel wie "Einsatzstärke", "Pflege-Vitamin" oder "kompetenteste Beratung", nämlich gar nichts. Daher sollte die Piratenpartei Österreichs dieses Wort für sich abschaffen.

Die gute Nachricht: für die Verteilung von Kartoffeln auf mehrere Leute und für Brainstorming gibt es sehr wohl innerparteiliche Anwendungen. Auch beim Rudeltexten könntet Ihr etwas machen. Inwzischen sei über das Schwarmverfassen von Presseaussendungen unter der Leitung von hellboy oder c3o nur soviel gesagt: mit Schwarmintelligenz hat das nur zu tun, wenn man die Naivität der Teilnehmer als "simple Elemente" versteht und die Langatmigkeit des Ganzen als "mehr". Das sprengt aber den Rahmen dieses Artikels, daher wird es einen zweiten über Verbesserungsvorschläge geben. Abhilfe ist möglich, aber dafür ist mehr erforderlich als "sich einbringen". Dafür muss man "arbeiten" -- was sich oft anfühlt wie beim Bundesheer im Kartoffelkeller zu schwitzen.

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