In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

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Kurzfassung

Die Ständige Mitgliederversammlung per LiquidFeedback reicht nicht, um gesellschaftlich relevante Politik zu betreiben. Wir müssen ein Bild der Gesellschaft zeichnen, die wir erschaffen wollen. Dieses Bild muss unmittelbar verständlich sein, ich muss es im Herzen tragen können. Viele Bausteine für dieses Bild haben wir bereits.

Zukünftige Bundesgeneralversammlungen können sich dieser Thematik intensiv widmen.

Schöne neue Welt

Der deutsche Bundesparteitag der Piraten am vergangenen Wochenende hats gezeigt: Die österreichischen Piraten trauen sich schon mehr, sind progressiver als die deutsche Bundespartei. Während dort noch immer ein heftiges Gezerre um die "Ständige Mitgliederversammlung" (sprich: Programmabstimmung via Internet) herrscht, haben die Österreicher die Entscheidung dazu bereits gefasst.

Seit zwei Monaten nun wächst das Programm täglich. In Druckform hat das Programm 71 Seiten. Das heißt, bisher ist jeden Tag eine Seite Programm dazugekommen. Als Mitglied im Landesvorstand Wien muss ich sagen: Ich bekomm Stresszustände, wenn ich mir vorstelle, dass ein Journalist mir eine Detailfrage zum Programm stellt. Mehr noch: Selbst wenn ich einen einzelnen Programmpunkt kennen würde, wie ist die individuelle Begründung dahinter?

Es ist ein Nachteil, der aus unserem Vorteil entsteht: Wir Piraten können Prozesse so gut paralellisieren, dass selbst ein Landes- oder Bundesvorstand nicht mehr überall Schritt halten kann.

Das Dilemma

Die Frage ist jetzt: Was ist besser? Ist es besser, wie die Deutschen zweimal im Jahr zusammenzutreffen und wirklich alle Beschlüsse gemeinsam zu fassen? Da weiß dann jeder was beschlossen ist, dafür ist es saulangsam. Oder ist es besser, wie die Österreicher eine ständige Mitgliederversammlung zu haben? Da weiß dann ein einzelner niemals über alles Bescheid, dafür gehts schnell.

Ehrlich gesagt, stellt mich keine der beiden "Optionen" wirklich zufrieden. Die Lösung muss jenseits dieses Prozesses zur Programmfindung liegen. Genauer: Jede dieser beiden Optionen lässt sich so nutzen, dass man die jeweiligen Vorteile nutzen kann. Nur in Kombination kann so eine vernünftige Gesellschaft entworfen werden.

Die Ständige Mitgliederversammlung alleine ist keine Lösung. Sie ist nur ein Prozess, um für vereinzelte Fragestellungen vereinzelte Antworten zu liefern, Meinungen einzuholen, Beschlüsse zu fassen. Sie ist ein Bottom-Up-Ansatz. Sie kann mir aber nicht einen ganzheitlichen Ansatz dazu liefern, wie wir Politik machen wollen.

Und genau das ist derzeit für mich die zentrale Fragestellung: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie begegnen wir jahrtausendealten Fragen ebenso wie modernen Anforderungen? Genau für diese Fragen brauchen wir Antworten. Und es gibt schon sehr viele Bausteine dazu. Wir haben einen Konsens über Grundwerte. Wir haben einen Kodex. Wir haben einige Themenkomplexe schon intensiv behandelt. Wir haben Forderungen in Bezug auf Grundrechte, Demokratie, Bildung und vielem mehr. Diese Dinge weisen alle eine definitive Richtung auf. Wir haben ein ansatzweises intuitives Verständnis dafür, wohin die Reise geht. Aber dann wiederum doch nicht. Denn wenn wir es hätten, dann würde unsere Bewegung schon viel mehr Fahrt aufgenommen haben.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Leider ist die österreichische Zivilisation zum Zeitpunkt der Niederschrift bis ins Mark verblödet, was die Bürger an ihren Eliten zweifeln lässt. Für so manchen sind die basistümelnden Alpenlandpiraten ein willkommener Strohhalm für den Weg aus einer tief- und weitgehenden gesellschaftlichen Krise. Das zieht viele Menschen an, die über Intrawebs wenig wissen, oder mit Thesen und Tom Paine wenig anfangen können. Sie wollen sich als Piraten "einbringen" gegen Beamtenprivilegien, gegen Lehrermangel, gegen zu viele Lehrer, gegen zu teure Lehrer, zu viele Kammern, gegen Staat, gegen Privat, gegen Ausbeuter, gegen Sozialschmarotzer, für die Verwundbarsten und Schwächsten unter uns, gegen Kapital, gegen Linkspopulismus, für mehr Rechte für Autofahrer, für gratis U-Bahn, für Arbeitslosigkeit bei vollem Lohnausgleich, für die Trennung von Kirche und Staat, gegen Diskriminierung von Moslems, für den Hundeführerschein für Pitbull-Halter, gegen Babyverstümmelung, für freie Religionsausübung, für Schuluniformen, für die Interessen von Minigolf-Unternehmern, gegen Rauschpillen, für manche Rauschpillen, für Schluss mit Lustig, gegen Schluss mit Basta oder wo auch immer sie jeweils die Wurzel allen Übels wittern.
- Encyclopædia Piratica

Es ist an der Zeit, dass wir beginnen, ein Bild zu zeichnen, von der Gesellschaft in der wir leben wollen. Die Richtung, in die wir die Gesellschaft verändern wollen. Und die Beschreibung dieses Bildes darf nicht beginnen mit "Internet", "Datenschutz", "Transparenz" oder "Mitbestimmung". Es muss noch weiter oben ansetzen. Wir müssen uns grundsätzlichen Fragen stellen: Was soll der Staat leisten? Was soll er im Gegenzug verlangen? Was ist erlaubt? Was ist verboten?

Dieses Bild muss intuitiv zugänglich sein. Ich muss es in einem Satz erklären können, in drei Sätzen, in 100 und in 10.000 Sätzen.

Und wie gesagt: Wir fangen nicht bei 0 an. Viele Bausteine haben wir schon und müssen sie nur noch sinnvoll zusammenfügen. Als Beispiel drücke ich unsere Politik in einem Satz aus: "Wir wollen eine Gesellschaft, die das Beste aus sozial und liberal vereint." Klar, das ist noch ein wenig sehr unspezifisch, aber es ist eben unsere Politik in einem Satz. Was wir jetzt tun müssen, ist, basierend auf dieser Grundthese ein Bild unserer Wunschgesellschaft zu zeichnen. Ich will einen Top-Down-Ansatz unseres Gesellschaftsbildes haben. Etwas, dass ich im Herzen spüre. Etwas, dass ich ohne zu zögern jedem x-beliebigen Menschen erzählen kann. Etwas, dass mitreißt, das bewegt.

Wir sind nicht weit davon entfernt. Im ersten Schritt müssen wir nur die Dinge, die wir schon haben verorten und herausfinden, was fehlt.

Was ich jetzt tun werde...

Ich werde jetzt beginnen, dieses Bild zu zeichnen. Ich lade jeden ein, mitzumachen. Ich werde Pads nutzen, die Wiki, das LQFB(=die ständige Mitgliederversammlung) und ich werde die Entwürfe auf zukünftigen Bundesgeneralversammlungen zur Diskussion stellen.

Den Raum dafür haben wir jetzt: Die BGVen sind befreit vom Druck, sich zwischen Programm- und Satzungserweiterungen entscheiden zu müssen. All das passiert in LQFB. Wir können unsere halbjährliche Konferenz jetzt dafür nutzen, uns ganz global über unsere kommende Politik auszutauschen. Wir können uns jetzt über die wirklich wichtigen Dinge Gedanken machen.
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